Mein Verhältnis zur bildenden Kunst (Manfred Reitz)

 

Ich bin in einem Dorf in der Oberlausitz aufgewachsen und habe mich schon als Schulkind gern mit der bildenden Kunst und mit Literatur beschäftigt, sehr viel gelesen und gemeinsam mit einem etwas älteren Freund viele Jahre lang intensiv gezeichnet und gemalt. Aber auch Kunstgeschichte hat mich interessiert, und ich habe schon damals Bücher über Kunst und Kunstwerke gelesen und oft darüber nachgedacht.

Künstlerische Veranlagungen und ein wenig künstlerisches Talent hatte ich sicher, aber ich war von Anfang an davon überzeugt, dass es für eine ernsthafte Künstlerlaufbahn mit Studium und freischaffender Existenz nicht ausreichen würde.

Deshalb wurde ich Kunsterzieher und gab dem Drängen meines Freundes, der freischaffender Maler wurde, nicht nach, um mit ihm ein Kunststudium zu beginnen.

Ich war durch das Lehrerstudium ebenso eng mit der Kunst verbunden und erwarb eine solide fachliche Grundlage für den Umgang mit ihr.

Stets blieb ich der künstlerisch praktischen Arbeit treu. Ich betätigte mich malerisch, zeichnerisch und grafisch. Gelegentlich arbeitete ich auch plastisch und an Genre übergreifenden Gestaltungsweisen. Später kam dann die Fotografie hinzu.

So entstanden über die Jahre hinweg zahlreiche Arbeiten, die ich als künstlerische Versuche bezeichne. Mit dem Begriff „Kunstwerk“ gehe ich sehr vorsichtig um, da ich meine Grenzen kenne und vor "gestandenen Künstlern" viel zu viel Respekt habe, um mich damit vergleichen zu können.

Hin und wieder war auch einmal eine Arbeit dabei, die schon eine gewisse künstlerische Qualität aufwies. Trotzdem bin ich mein Leben lang ein Suchender geblieben. Ich suche nach Darstellungsweisen, mit denen ich meine Ideen und Phantasien in eine mir gemäße Form umsetzen kann.

Am liebsten würde ich malen, zeichnen und traditionell grafisch arbeiten, denn malerische oder grafische Experimente reizen mich sehr. Leider fehlt mir dazu der Raum. In meinem Arbeitszimmer von 8 qm ist das unmöglich, ein kleines Atelier kann ich mir nicht leisten.

So blieben mir zunächst nur die Computer gestützten Möglichkeiten für die künstlerische Bildgestaltung.

Die reine, traditionelle Fotografie reizte mich nicht sonderlich, da sie im künstlerischen Sinne nur einen begrenzten Gestaltungsraum  zulässt.

Deshalb halte ich eng an die Realität angelehnte Abbildungen (auch in der Malerei) in heutiger Zeit für zu wenig ergiebig. Die abgebildete Realität ist mir für meine zugespitzten Aussagen oft zu oberflächlich, sie verbirgt das Besondere, Typische oder Komprimierte einer Idee, das in den Dingen steckt, hinter einer vordergründigen Fassade. 

Erst die Anwendung der Verfremdung von Wirklichkeit oder deren Abstraktion machen Bilderfindungen möglich, die viel deutlicher, stärker und differenzierter meine Gedanken, Gefühle und Ideen widerspiegeln können.

In der digitalen Bildbearbeitung entdeckte ich eine Möglichkeit, Bilder zu „machen“, die meinen Intensionen entsprechen. Für mich kommt dabei die gesamte Bandbreite der Techniken in Frage. Sie geht von der fast authentischen Fotografie bis zur freien, softwaregestützten Bildschöpfung. Eine besondere Rolle spielt dabei das bildgestalterische Experiment, das Spiel mit den Mitteln, die Überraschung durch ein Ergebnis, das meinem Unterbewusstsein  entspricht.

Manchmal brauche ich dazu das authentische, manchmal das verfremdete Foto, manchmal die fotografische Collage bzw. Montage und manchmal das frei gestaltete, mit der Software „gemalte“ oder „gezeichnete“ Bild.

Ich habe darüber nachgedacht, ob man in Tintenstrahldrucke oder fotografische Bilder analog hinein zeichnen oder –malen könnte. Doch das ist unerhört schwer, weil zwei grundverschiedene ästhetische Konzepte miteinander verbunden werden müssen, die eigentlich nicht zusammenpassen. Dafür muss man ein sehr ausgeprägtes ästhetisches Gefühl besitzen. Sonst werden die Ergebnisse peinlich. Ich erinnere mich dann immer an Heine, der im „Wintermärchen“ schrieb: „…sie sangen mit warmen Gefühl und falscher Stimme…

Das Gleiche trifft auf die Collage zu. Die Kunst ist voll mit Collagen, mit einem unglaublichen Stilbruch. Nur wenige haben das Genre beherrscht wie Picasso oder Braque.

Ein gelungenes Bild muss für mich die folgenden Merkmale aufweisen:

  • Einheit von Form und Inhalt
  • Einheit von Spannung und Ausgewogenheit
  • Einheit Widerspruch und Ausgleich
  • Einheit der stilistischen Mittel
  • Einheit von Farbspannung in der Farbstimmung
  • Einheit vom Teil zum Ganzen

Wenn diese Einheiten zerbrechen, wenn ästhetische Mittel in der Zuspitzung ihres Widerspruchs, ihrer Gegensätzlichkeit eine bestimmte Grenze überschreiten, dann sagen die Künstler: Das Bild „zerbricht“; die Fläche „fällt ´raus“ oder manchmal nur: „so geht das nicht“!

Vom geglückten zum misslungenen Bild ist oft - wie vom „Erhabenen" zum “Lächerlichen“ – nur ein kleiner Schritt.

Die oben genannte Einheit von Punkt und Kontrapunkt stellt für jeden Künstler (in allen Künsten, auch in der Musik, in der Lyrik, in der Bildhauerei, in der Architektur) die größte Herausforderung dar. Es ist am schwersten zu machen, am schwersten zu verstehen und am Bild zu erkennen, obwohl jedes große Werk in seiner Ästhetik in vollendeter Weise die Beherrschung der Widersprüche in ihrer größten Zuspitzung verkörpert.

Fehlt dieser Aspekt, wird das Bild langweilig, dekorativ oder peinlich falsch.

Ich mache mir bei meiner Arbeit kaum Gedanken über Genre, Grenzen und Positionen. Für mich zählt nur, ob das Ergebnis im Sinne meiner Ideen und Absichten ausfällt und ob es im gestalterischen Sinne „stimmig“ ist.

Um Stimmigkeit, Stilbruch und ähnliche qualitative Eigenschaften erkennen zu können, braucht man viel Wissen, viel Erfahrung und das richtige Gefühl. Ob ich das immer habe, bin ich mir nicht sicher; ein gewisses Maß an Wissen und Erfahrung glaube ich jedoch zu besitzen. Eigenartig ist dabei, dass ich die Schwächen an fremden Bildern ziemlich schnell entdecke, für meine eigenen dagegen brauche ich oft den fachlich sachlichen Hinweis des Kritikers, um dafür die Augen geöffnet zu bekommen.

 

Ein letztes Wort aus Goethes „Faust“; Wagner zum Schüler: „Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet’s nie erjagen.“

 


Gedanken zur Diskussion über die Einordnung digitaler bildgebender Verfahren in die Gestaltungsbereiche der bildenden  Kunst (Manfred Reitz)

 

 

 

Der künstlerische Schaffensprozess:

 

 Bildender Künstler  >> Erfinder, Phantast  >> Gestalter  >> Kunstwerk

 

Künstler

ist

Erfinder

 und

Phantast

und

 

 Gestalter

 

zum

Ergebnis

Maler Grafiker

Fotograf

entwik- kelt oder hat

Ideen, Vorstellungen,     Gefühle, Gedanken, Philosophien …

über-setzt  sie in

gedankliche Bilder

bedient sich  be-stimm-   ter

Werkzeuge, Materialien, Geräte, Hilfsmittel und Techniken

realisiert sie im

Kunstwerk Bild

 

Am wichtigsten ist dabei der Umsetzungsprozess von immaterieller Idee zu materiellem Bild. Er zeigt sich in der Ergebnis-„Form“ des Bildes, denn sie ist die materialisierte, konkret ausgeformte Idee und damit der Bedeutungsträger für den Betrachter. (Nur was an Form vorhanden ist, kann als Inhalt entdeckt werden.) -  Interpretation ist stets Formdeutung.

Deshalb können komplizierte Gedankenzusammenhänge oder generalisierende Begriffe wie „Frieden“, „Not“ u.ä. nicht wirklich als Form dargestellt werden; es gibt keine Form z.B. für Frieden.

Darstellbar sind nur konkrete oder wirklichkeitsähnliche Gegenstandsformen und ungegenständliche Formengebilde. Außerdem lassen sich natürlich vor allem Formbeziehungen darstellen. Weitere wichtige Sinnträger eines Bildes sind die Farbe und die Farbstimmung. Ganz bedeutsam für Wirkungen sind auch Formbewegungen, Richtungen, Ordnungen, Formverteilungen, Rhythmus und Größenunterschiede.

In diesem Sinne lassen sich z.B. gestalten: „RUHE, UNRUHE, CHAOS, HARMONIE, KONSTRUKTIVES, DEKONSTRUKTIVES, BEDRÜCKENDES, VERBINDENDES, ZERSTÖRTES“ usw.; aber niemals: „LIEBE“, „HASS“, ANSTAND, WÜRDE“ usw.. Es sei denn, man verwendet Symbole, die eindeutig mit diesen Begriffen besetzt sind: z.B. „Herz“ für „Liebe“.

Die Gestaltung eines Bildes ist als ein Arbeitsprozess zur Formung der Idee anzusehen, im Ringen mit Materialien, Werkzeugen, Geräten, Hilfsmitteln und Arbeitstechniken. Beim Experimentieren mit Materialien, Werkzeugen… entstehen im Arbeitsprozess oft spontane Ideen und formen sich in der weiteren Arbeit zu überraschenden Ergebnissen. Aleatorik. Im extremen Falle könnte es sogar so sein, dass der Künstler erst im Ergebnis seine unbewusst eingeflossene Idee entdeckt.

In der bildenden Kunst gelten alle Gestaltungsmöglichkeiten als legal, sinnvoll und möglich, wenn sie in deutlicher und unver-wechselbarer Weise eine Idee umsetzen und sichtbar machen.

Ich meine deshalb, dass das Nachdenken über Bezeichnungen von Gestaltungstechniken im Allgemeinen nicht so wichtig ist – wohl aber das Nachdenken über ihre spezifische Wirkung als Sinnträger.

 

Gedanken zu Definitionen und Bezeichnungen für formale Zusammenhänge:

 

Gesichert und klar ist: Maler und Grafiker bedienen sich zur Herstellung zweidimensionaler Bilder bestimmter Techniken, Hilfsmittel, Werkzeuge und Materialien. In diesem Sinne ist:

 

     alles „Gemalte“              >>  Malerei                         

     alles „Gezeichnete“       >>  Zeichnung (Grafik)      }  alle drei  >>  Bild“kunst“werke

     alles „Gedruckte“           >>  Druck-Grafik              

 

Malen und Zeichnen sind Direktverfahren, denn das immaterielle Bild wird direkt mit den Mal- oder Zeichenwerkzeugen auf den Bildträger aufgebracht. Druckgrafik ist ein indirektes Verfahren, denn zwischen Idee und Ergebnis schieben sich der „Bildentwurf“ und eine Drucktechnik. Die Entwicklung des „Entwurfs“ geschieht wie bei den Direktverfahren mit Hilfe von Werkzeugen, Hilfsmitteln, Geräten usw..

Auch der Computer mit seiner Hardware und Software ist nur ein Werkzeug unter anderen, um einen Entwurf anzufertigen. Das gleiche gilt für die Fotokamera oder den Scanner.

Mit einem Computer oder anderen digitalen Geräten kann man weder „malen“ noch „zeichnen“. Man kann nur Malereien oder Zeichnungen kopieren. Begriffe wie „painting“ (dt. Malerei), auch in der Zusammensetzung mit „digital“, sind eigentlich Unsinn. Aber man kann mit dem Rechner immaterielle Vorlagen, Entwürfe gestalten, die man durch Druckverfahren als Bild materialisiert.

Deshalb denke ich, dass digitale, mit dem Computer entworfene und dann gedruckte Bilder auf jeden Fall Grafiken sind. Was wohl sonst?

Es handelt sich dabei, wie bei der traditionellen Grafik auch, um eine „grafische Gestaltungstechnik“, die prinzipiell auf den gleichen Arbeitsschritten beruht, wie alle schon längst bekannten grafischen Verfahren.

Wenn man mit einem Computer Bilder entwirft und sie ausdruckt oder als Lichtbild präsentiert, macht man prinzipiell nichts Neues, man verwendet nur ein „neues“ Werkzeug im Sinne eines „alten“ Arbeitsprozesses.

Das Wichtigste in allen grafischen Verfahren ist der Bildentwurf, denn er ist die Umsetzung der Idee ins Materielle. Man kann ihn herstellen durch Zeichnen, Ritzen, Fotografieren oder durch Digitalisieren mit dem Computer.

Das Ergebnis dieser „Entwurfs“- Bilder ist eine Druckgrafik. Welches weitere Bestimmungswort man diesem zusammengesetzten Grundwort voranstellt, dürfte von untergeordneter Bedeutung sein, je nach Betrachtungsweise könnte man sagen: „Com-puter“druckgrafik oder „Digitale“ Druckgrafik.

 

Zur Rolle der „Fotografie“ und ihren „Grenzen“

 

Etwas komplizierter wird die Sache, wenn man den Gestaltungsbereich „Fotografie“ mit ins Spiel bringt. Bei der Fotografie handelt es sich um ein eigenes Bild gebendes Genre, dass zunächst  technisch mit Grafik nichts zu tun hatte – fotografische Bilder wurden ja in der Vergangenheit nie ausge“druckt“ sondern in einem chemischen Prozess auf Papier entwickelt.

Erst mit der Entstehung der digitalen Bildtechnik mittels Computer gab es eine entscheidende Neuerung: fotografische Bilder wurden „ausgedruckt“ und damit automatisch zur „Druckgrafik“. Der „grafische Entwurf des Bildes“ war jetzt die Fotografie in digitaler Form, das Ergebnis der "Tintenstrahl-druck“. Fotografie war zu Fotografik geworden!

Deshalb denke ich, dass man gedruckte Bilder, deren Ausgangspunkt digitalisierte Fotos sind, „Digitale Fotografik“ nennen sollte. „Digitale Fotografie“ ist es nur dann, wenn die Bilddaten von einer Digitalkamera auf Fotopapier ausbelichtet werden.

Wenn man von „Grenzen der Fotografie“ spricht, müsste man zunächst klären, welche Grenzen gemeint sind:

     Formal technische Grenzen, die dadurch gesetzt sind, was mit der vorhandenen Technik als fotografische Abbildung machbar

       ist?

     Grenzen der Gegenständlichkeit, des Realitätsbezuges, die durch den Abstraktionsgrad gesetzt sind?

     Grenzen der Authentizität, die dort gesetzt sind, wo in das ursprünglich authentische Bild verändernd eingegriffen wird?

     Inhaltliche Grenzen, die im Umsetzungsprozess der Idee zum Bild entstehen? Also auch die Frage, kann man zwischen Foto- 

       grafie und Grafik „sitzen“?

Fotografie ist eine eigene Kunstform, die formal mehr als hundert Jahre an technische Grenzen gebunden war.

Inhaltlich war sie durch einen starken, nach der fertigen Aufnahme kaum zu beeinflussenden Realitätsbezug gekennzeichnet. Man konnte die Aussage eines fotografischen Bildes, die Gestaltungsabsicht, mit nur wenigen Mitteln direkt beeinflussen.

Eine großer Nachteil bestand über einen langen Zeitraum darin, dass man die Realität nicht farbig bzw. farbrichtig abbilden konnte. Diese Grenze wurde mit der Entstehung und Verbreitung der Farbfotografie Anfang der 30ger Jahre des 20. Jh.  überschritten. Die Grenzüberschreitung (wohl besser: Grenzerweiterung) stieß damals auf die gleiche Ablehnung vieler Fotografen wie später die digitale Fotografie.

Mit der Möglichkeit der digitalen Fotografie erfolgte jedoch eine ästhetisch neue „Fotografie“, denn es wurde mit Hilfe des PC möglich, entscheidend in das Bild einzugreifen und starke Veränderungen in Form, Struktur und Farbe vorzunehmen, die ihrerseits große inhaltliche Veränderungen mit sich bringen.

Das halte ich für eine Grenzüberschreitung, zu einer Art von Fotografie, deren neue  Grenzen z. Z. bei weitem noch nicht zu erkennen sind.

 

Weiterhin wurde damit auch die Grenze zwischen Fotografie und Grafik überschritten, denn die Endprodukte der digitalen Fotografie waren in der Regel keine belichteten Bilder mehr sondern Drucke. Außerdem fügte sich zwischen Lichtbild und Druck der bearbeitete digitale „Entwurf“.

Wer fotografische Bildvorlagen ästhetisch verändert, in dem er mit der Hand hineinzeichnet, collagiert oder sie digital umformt, hat die Grenze der Fotografie überschritten und arbeitet „grafisch“ mit dem Ziel, seine Ideen und Bildvorstellungen in einer Druckgrafik oder Zeichnung zu materialisieren. Der Künstler ist kein Fotograf mehr, seine Produkte keine Fotografien mehr, er wird zum Grafiker.

Im künstlerischen, hier grafischen Umsetzungsprozess, der ja als rechnergestützter Arbeitsprozess stattfindet, gibt es ebenfalls Grenzüberschreitungen.

Eine davon wird gesetzt durch den Wirklichkeitsbezug des Bildes. Sie ist aber fließend und wird dann überschritten, wenn die Formen und Formzusammenhänge keinen Wirklichkeitsbezug mehr haben, sie also einen sehr hohen Abstraktionsgrad aufweisen.

Die Authentizitätsgrenze, die vielen traditionellen Fotografen besonders wichtig ist, wird dann überschritten, wenn wesentliche inhaltliche oder auch formale Elemente des Bildes ins „Unwirkliche“ kippen, wenn die Wirklichkeit „verfremdet“ wird.

Eine gewisse Zäsur, nicht Grenze, kann man dort ziehen, wo für die Gestaltung des digitalen Bildentwurfs keine fotografischen Bilder oder Bildelemente mehr verwendet werden. Auch dieser Einschnitt ist eher fließend, da es zur traditionellen Fotografie schon dann nur noch wenige Bezüge gibt, wenn man Bruchstücke oder Strukturen aus Fotos verwendet. Eine solche Arbeitsweise hat große Ähnlichkeiten mit der Collage.

 

Zum digitalen Bildentstehungsprozess

 

Wie schon oben ausgeführt, betrachte ich den digitalen Bildentstehungsprozess als einen kreativen „Schöpfungsprozess“. Mit den Werkzeugen: Software und Computer erfindet man Bilder. Bereits mit der intensiven, stark verändernden Bearbeitung eines Digitalfotos hat der Prozess der Erschaffung eines anderen, eines „neuen“ Bildes begonnen.

Vielleicht könnte man noch einmal dort eine gewisse Grenze ziehen, wo als Gestaltungselemente keine fotografischen Abbildungen oder deren Bestandteile mehr verwendet werden. Mit der Überschreitung dieser Grenze gestaltet man völlig frei nur noch mit Formen, Farben und Strukturen, die von der Software ermöglicht werden. Diese Arbeitsweise ist dann dem freien Malen oder Zeichnen auf einen Lithostein prinzipiell sehr ähnlich.

 

Begriffe und Nachschlagewerke

 

Ältere Lexika, Nachschlagewerke und Fachliteratur helfen kaum bei der Klärung der oben genannten Begriffe. Selbst die neuesten Definitionen bei Wikipedia sind oft unlogisch, unwissenschaftlich und uneindeutig, manchmal sogar falsch.

Da es sich um eine sehr junge neue Technik handelt, die noch in der Entwicklung ist, muss man sich selber helfen. Meiner Auffassung nach ist es legitim, für seine Arbeitsweise bzw. Arbeitstechnik Begriffe zu verwenden, die sich aus logischen Beziehungen und Anwendungen gesicherter älterer Begriffe ergeben. Dass damit manchmal ein Bedeutungswandel bereits anders besetzter Begriffe verbunden sein kann, ist normal und muss in den meisten Fällen als inhaltliche Begriffserweiterung gesehen werden.

 

Gestaltung und Kunst

 

Eine ganz andere Frage, die mit der Technik und dem Verfahren wenig zu tun hat, ist die Frage, ob es sich beim Ergebnis überhaupt um Kunst handelt?

Die Anwendung und brillante Beherrschung malerischer, zeichnerischer, fotografischer oder grafischer Techniken und Arbeitsweisen garantieren noch nicht automatisch, dass am Ende ein „Kunstwerk“ entsteht.

Die Frage, wann es sich um ein solches handelt und ob es auch noch künstlerische Qualität hat, ist eine weitaus schwierigere Frage, als die nach den Grenzen der Gestaltungsweisen.

Die Fachwelt ist sich einig, dass es ästhetische Kriterien für Kunst gibt, alle reden von Qualität, von guter oder weniger guter Kunst, aber seit Jahrhunderten ist es noch nicht gelungen, allgemeingültige dauerhafte Definitionen und Kriterien dafür fest zu machen.

Man könnte sich dabei der Feststellung anschließen: Es gibt keine „gute“ oder „schlechte“ Kunst, denn es gibt nur Kunst und das schließt, wenn überhaupt, Qualität ein.  Sehr wohl aber gibt es dann aber künstlerische und unkünstlerische Bilder, zu erkennen in der Regel an der Einheit von Inhalt und Form. Stimmen Inhalt und Form nicht überein, werden die Bilder unkünstlerisch, falsch, unwahr oder kitschig.

 

Darüber lohnt es sich, nachzudenken und zu diskutieren, denn das fördert das Einschätzungs- und Umsetzungsvermögen wirklich. Ich persönlich sehe dort große Probleme und habe dazu viele Fragen.

Ich bin zwar der Überzeugung, dass es Gestaltungsgrundsätze, Wirkungsgrundsätze, Farbregeln, Kompostionsprinzipien und der gleichen mehr gibt. Von einigen davon habe ich auch relativ klare Vorstellungen. Doch ähnlich wie bei den Begriffen zu grafischen Arbeitsverfahren gibt es nur wenige gesicherte und von allen anerkannte Regeln.

Schuld daran hat in nicht geringem Maße Joseph Beuys, der sinngemäß den verhängnisvollen Satz geprägt hat: „Jeder Mensch ist ein Künstler!“ Das lässt den wohl unzulässigen Schluss zu, dass alles, was ein Mensch perfekt macht, zu Kunst wird. Zumindest wurde das von vielen so verstanden. Doch das Zitat ist aus dem Kontext herausgerissen worden und war von Beuys anders gemeint. Aber es führte in den letzten 40 Jahren leider zu einer grenzenlosen und unkritischen Sicht auf die Kunstproduktion. Es öffnete jedem Trottel und von sich überzeugten Stümperer die Möglichkeit, seine unausgegorenen Versuche als Kunst auszugeben, wenn er sie nur mit Überzeugung und Pathos vertrat und sie technisch perfekt hergestellt waren. Wenn sich dann noch Abnehmer dafür fanden, war das Dilemma komplett.

 

Zu erfolgreicher Kunstproduktion gehören außer Talent, Sensibilität und Geschicklichkeit auch Bildung und Fachverstand. Der gute Wille und die gute Absicht reichen nicht aus. (Das Gegenteil von „gut“ ist nicht „schlecht“ sondern „gut gemeint“, heißt es in einem bekannten Ausspruch.) Dass es von Zeit zu Zeit auch mal Genies gibt, die nicht wissen, was sie tun und trotzdem Wunderwerke schaffen, bestätigt nur diese Regel.

Auch der grenzenlose Kitsch, der uns umgibt, und sich ebenfalls als Kunst verkleidet, trägt zur allgemeinen Verwirrung bei.

Da hilft nur Misstrauen, Erfahrung, ständige Selbstbefragung und selbstkritische Überprüfung sowie die Diskussion mit Fachleuten und gestandenen Künstlern. Diskussionen führen häufig jedoch nur dann zu sinnvollen Ergebnissen, wenn annähernd gleich gebildete Partner auf Augenhöhe diskutieren.

Von Karl Marx stammt das Zitat: „Wenn man Kunst verstehen will, muss man ein künstlerisch gebildeter Mensch sein.“

Das trifft erst recht zu, wenn man Kunst nicht nur verstehen sondern auch machen will.

Deshalb halte ich es für unverzichtbar, dass jeder Künstler oder künstlerisch interessierte Mensch ein kunstgeschichtliches Wissen haben sollte, denn die Gegenwartskunst steht in einer langen Tradition. Sie schwebt nicht abgehoben im Raum sondern hat vielfältige Beziehungen zu vergangenen Kunstepochen.

Heinrich Heine: Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.

Wer diesen Gedanken nicht akzeptieren will, wird stets in sentimentaler und ahnungsloser Befangenheit bleiben und über naive Positionen nicht hinauskommen.

 

Kunst muss schön sein! – Kunst muss jeder verstehen können! – Das ist ein gutes Kunstwerk, weil es mir gefällt! – Das ist schlecht, weil es mir nicht gefällt! – Wenn ich nichts erkennen kann, ist es keine Kunst! – Das soll Kunst sein? – Kunst hat doch was mit „Können“ zu tun, aber das kann wohl Jeder! –  

Die Reihe dieser Kunst-Kundgebungen ließe sich noch lange fortsetzen. Sie kommen alle aus der Unwissenheit vieler Menschen darüber, was Kunst erkenntnistheoretisch wirklich ist, wie sie entstanden ist, wie sie sich entwickelt hat und welche Wirkungsmechanismen sie hat.

Mich erregt das nicht sonderlich, weil es nun einmal so ist, wie es ist. Trotzdem wünschte ich mir, dass Menschen sich um mehr Kenntnisse und Sachverstand bemühen, vor allem dann, wenn sie künstlerische Interessen haben und selbst gern und mit Hingabe künstlerisch tätig sind.

Nichts zu wissen ist nicht schlimm, nichts wissen zu wollen dagegen schon.

Viele ahnen nicht, welch enormer Persönlichkeitszuwachs und welche innere Befriedigung aus kreativer künstlerischer Tätigkeit erwachsen kann. Die Freiheit individueller, kreativer Bildschöpfung halte ich für für eine der beglückendsten Formen persönlicher Freiheit. Dabei ist nicht zu verschweigen, dass es auch innere Spannung und Unzufriedenheit gibt, im mitunter quälenden Prozess der Umsetzung von Ideen, wenn sich die Gestaltungsmittel nicht fügen wollen, die Ideen nicht gleich kommen wollen oder die Ergebnisse noch nicht perfekt sind. Kritik hilft weiter und setzt sich in Kreativität um, wenn sie aus künstlerischer Sicht mit künstlerischem Sachverstand erfolgt.

Weniger angenehm und als belastend wird Kritik empfunden, wenn sie von einer unkünstlerischen, nicht fachlich sachlichen Seite kommt. Oft sind die Auslöser dafür wiederum Unkenntnis oder Unverständnis des Kritikers.

______________________________________________________________________________________________________________________ (*1 s. Wikipedia, Stichwort „Verfremdung“

Verfremdung kann auf Verschiedenes anspielen, etwa auf:

1. den Verfremdungseffekt (V-Effekt) in der Literatur, insbesondere bei Bertolt Brecht

2. die Methode des Konstruktiven Realismus (Wissenschaftstheorie); ein Übersetzen von formalen Sätzen eines disziplinären wissenschaftlichen Kontextes in andere Kontexte, um sich einem Verständnis der (impliziten) Voraussetzungen einer Wissenschaft anzunähern

3. die Verfremdung von Computergrafiken oder digitalisierten Fotos in der Elektronischen Bildbearbeitung, z. B. durch Tonwerttrennung, Tonung, Weichzeichnung, Verzerren, Stauchen, Veränderung der Farbsättigung sowie diverse Filter und Filtermakros oder Grafikfiltern (von denen Tausende z. B. als so genannte Plugins zur Verfügung stehen); eingeschränktere (und meist auch aufwändigere) Möglichkeiten dazu gibt es auch in der klassischen Fotografie

4. die Verfremdung von Audiomaterial (Tönen, Geräuschen) im weitesten Sinne im Tonstudio durch elektronische Maßnahmen (z. B. Flanger, Wah-Wah, Ringmodulator, (künstlichen) Hall bzw. Echo, Tremolo, Pitching usw.); auch hier bietet beinahe jedes mittelmäßige Com- puterprogramm mehr Möglichkeiten als noch vor 15 Jahren ein ganzer (u. U. höchst kostspieliger) Gerätepark

5. Zu unterscheiden ist die Ver- von der Entfremdung.

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 Ergänzungen zu Verfremdung (M.R.):

Die „Verfremdung“ von Realität in Bildern ist ein bedeutendes Gestaltungsmittel, um die „Botschaft“ eines Bildes zu veranschaulichen. Durch fremd anmutende Gegenstände, Formen, Farben und Effekte (die in der Wirklichkeit so nicht vorhanden sind) entstehen in den Bildern ungewöhnliche Eindrücke, die den Betrachter zu wichtigen inhaltlichen Erkenntnissen stimulieren  können.

Man erreicht damit ein illusionistisches Bild, das von manchen Künstlern bis zu „Traumwelten“ verfremdet wird.

Die Verfremdung ist als Mittel, nicht aber als Begriff, bereits seit Jahrtausenden bekannt und wurde von vielen Künstlern intensiv genutzt. Bekannte Beispiele  dafür sind Hieronymus Bosch, 15.Jh. oder René Magritte und Salvador Dali aus dem 20.Jh.

Auch in die Fotografie fand dieses Mittel schon vor langer Zeit Eingang. Jahrzehnte lang bestand allerdings eine technisch machbare Grenze, die durch digitale Bildbearbeitung überschritten wurde. Die neuen Möglichkeiten sind grenzenlos und enden erst im völlig einfarbigen oder schwarzen Bild. (Auch das hat es als äußerste theoretische Konsequenz schon gegeben!)